Unkomplizierte Umgangsformen
rw-admin | 09/06/2016
„Ich habe lange über meinen ersten Job nachgedacht, denn in einer typischen Beamtenbude wollte ich nicht einsteigen“, erzählt Christian Funke. Mittlerweile arbeitet der 34-jährige Diplominformatiker schon fünfeinhalb Jahre bei Sun Microsystems in Heimstetten bei München, davon verbrachte er ein Jahr in der US-Zentrale. Nach den auffälligsten Unterschieden befragt, meint Funke: „Mich überraschte anfangs die Art, wie die Leute miteinander reden. Die Kommunikation funktioniert anders. Alle benutzten nur den Vornamen, Hierarchien waren nicht sofort sichtbar. Fragen an Kollegen, die eigentlich einige Stufen höher auf der Karriereleiter stehen, gehen leichter über die Lippen, da die förmliche Anrede entfällt.“
Das „Du“ gilt vom ersten Arbeitstag an
Für die Sun-Führungskräfte allerdings ist noch immer das höfliche „Sie“ reserviert, falls keine anderen Vereinbarungen getroffen wurden. Ähnliches weiß Sonja Fleischer-Atorf von Procter und Gamble in Schwalbach zu berichten: „Bei uns gehört die Anrede mit Vornamen und „Du“ vom ersten Arbeitstag an dazu. Das gilt für alle Hierarchieebenen, auch für den Geschäftsführer.“ Allerdings sei es, so die Senior-HR-Managerin, für sie anfangs durchaus ungewöhnlich gewesen, den um einige Jahre älteren Chef beim Vornamen zu nennen. Große Unterschiede zwischen US-Zentrale und den weltweiten Tochterunternehmen von Procter und Gamble gebe es nicht: „Die Werte und Prinzipien sind dieselben, ebenso die Tendenz zu Großraumbüros und der OpenSpace-Policy.“
Für offene Bürotüren und saloppe Umgangsformen können sich viele Mitarbeiter begeistern, allerdings nimmt die Euphorie rapide ab, wenn der Umzug in ein Großraumbüro mit eigenem „Cubical“ ansteht. Daran erinnert sich auch der 46-jährige Holger Exner, der sieben Jahre für Texas Instruments als Marketing Manager Finance arbeitete und die letzten vier Jahre die Marketing-Abteilung der Viasoft International GmbH leitete: „Ich war immer ganz froh, dass ich nie längere Zeit in einem Kaninchenstall arbeiten musste.“ Bei Hewlett-Packard (HP) sind Großraumbüros auch für Führungskräfte eine Selbstverständlichkeit. „Unser Geschäftsführer Heribert Schmitz hat mit anderen Managern zusammen auch ein Großraumbüro“, erzählt die HP-Pressesprecherin Jeannette Weißschuh.
Im neuen Bürogebäude von Sun in Heimstetten reserviert jeder Mitarbeiter Rechner und Schreibtisch über ein Buchungssystem und schiebt morgens seinen Rollcontainer an den jeweiligen Arbeitsplatz. „Unsere Mitarbeiter haben kein festes Büro, sondern einen Rollcontainer“, erklärt Michael Wagenknecht, HR-Direktor bei Sun. Mitarbeiter, die einen eigenen Schreibtisch gewohnt waren und feste Büronachbarn durchaus zu schätzen wussten, waren anfangs nicht sonderlich begeistert von der neuen Mobilität. „Ich hatte Aggressionen bei der Vorstellung, keinen festen Arbeitsplatz mehr zu haben“, räumt ein Sun-Mitarbeiter rückblickend ein. Doch mittlerweile haben die Kollegen durchaus Möglichkeiten gefunden, das Buchungssystem so zu nutzen, dass sie Nachbarschaften definieren und weiterhin mit bestimmten Kollegen einen Teil der neuen Büroarrangements für mehrere Monate teilen. „Das neue Office wirkt durch den regelmäßigen Umzug steril. Man kann es sich nicht so bequem machen“, bedauert ein anderer Mitarbeiter. Nur die Wenigsten packen die Stofftierkollektion jede Woche aufs Neue aus dem Rollcontainer und drapieren sie um den gerade „aktuellen“ Bildschirm.
Starkes Hierarchiedenken
Gerade lockere Umgangsformen und das informelle „Du“ suggerieren egalitäres Führungsverhalten – auf den ersten Blick. Schaut man aber hinter die Kulissen, ergibt sich ein ganz anderes Bild: „Anfangs fiel es mir nicht so auf, aber Hierarchiestufen sind sehr wichtig. Es herrscht ein starkes Hierarchiedenken“, so die Erfahrung von Exner. „Wer an wen berichten darf, sind ganz wichtige Indizien des beruflichen Aufstiegs“, ergänzt der heute selbständige Marketing-Berater.
„Junge Mitarbeiter erhalten schnell viel Verantwortung“, berichtet Rudolf Gallist, Vorstandsvorsitzender des Branchenverbands VSI. Allerdings räumt der ehemalige Microsoft-Geschäftsführer ein, „dass die Firmenpolitik zum Teil nicht transparent ist und Mitarbeiter sie nur teilweise mitbekommen und verstehen“. Gute Sprach- und Kulturkenntnisse gehörten deshalb unbedingt dazu. Der Satz „I have a problem“ sei ein fast schon klassisches Beispiel dafür, wie transatlantische Missverständnisse entstehen können. Unerfahrene deutsche Kollegen zucken förmlich zusammen und sehen schon eine mögliche Katastrophe am Horizont heraufziehen, während die amerikanischen Gesprächspartner nur auf eine Unstimmigkeit hinweisen möchten.
Herbert Nestler, Kommunikationstrainer in München und Experte für deutsch-amerikanische Unternehmenskultur, betont ebenfalls, dass interkulturelle Sensibilität für die deutschen Mitarbeiter von US-Tochterunternehmen zur erfolgreichen Arbeit unbedingt dazugehört. „Für Mitarbeiter und Unternehmen gilt das Gleiche: Sie müssen die kulturellen Unterschiede kennen und ein Gespür dafür entwickeln.“ Das gelte auch für Angestellte, die in einer deutschen Niederlassung arbeiten.
Charismatische Führungskräfte in den USA
„Während viele Führungskräfte in den USA starke, charismatische Menschen sind, die ähnlich auftreten wie Popstars, geht es in Deutschland nüchterner zu. Hier legen die Manager mehr Wert auf Ausgleich. Die Leistung von Teams zählt viel, sie gleichen stärker einer Fußballmannschaft. Herr von Pierer beispielsweise verbringt wenig Zeit vor einer Fernsehkamera“, erzählt Nestler. Nach den Ereignissen in der jüngeren deutschen Geschichte dürften charismatische Führungskräfte auch nicht besonders gefragt sein, prognostiziert Nestler. Allerdings zeichnet amerikanische Chefs durchaus eine gewisse Sensibilität gegenüber ihren Mitarbeitern aus. „Leute wie Bill Gates vermeiden, dass sie als „the big guy“ wahrgenommen werden“, erzählt der Kommunikationsexperte.
Allerdings beklagen sich viele Tochter-Unternehmen über fehlendes Fingerspitzengefühl und gerade viele deutsche Mitarbeiter sagen den US-Amerikanern nach, sie wollten ihre eigene Weltsicht und Markteinschätzung durchsetzen. „Ich habe immer wieder erlebt, dass US-amerikanischen Managern und Kollegen die kulturelle Sensiblität gegenüber Europäern fehlte. Dallas bedeutete für sie die Welt, darüber hinaus zählt vielleicht noch Florida. Allen anderen gegenüber legen viele eine ziemliche Ignoranz an den Tag“, so die Erfahrungen von Exner.
Mittlerweile versuchen viele nordamerikanische Unternehmen, in den Tochterfirmen einen Kompromiss zwischen dem Führungsstil der Zentrale und dem der weltweiten Niederlassungen zu finden. Nur noch wenige setzen Geschäftsführer aus den Vereinigten Staaten in den Tochterunternehmen ein. „In den USA herrscht oft Unverständnis für den europäischen Markt. Viele sehen nicht, dass es außerhalb des US-Systems andere Begebenheiten gibt“, erzählt Gallist, der insgesamt 21 Jahre seines Berufslebens für amerikanische Unternehmen arbeitete. „In den USA erwarten und akzeptieren die Mitarbeiter schnelle Veränderungen, in Deutschland muss es dagegen erklärbar und nachvollziehbar sein“, weiß Nestler.
Allerdings schütteln einige Europäer ganz irritiert die Köpfe, wenn sie beispielsweise die US-amerikanischen Vorstellungen bei den Themen „Political Correctness“ und „Sexual Harassment“ hören. Für ein südbayrisches Tochterunternehmen endete die Toleranz an der Kantinentür. In Nordamerika ist es nämlich undenkbar, den Mitarbeitern Alkohol zu verkaufen und der nordamerikanische Mutterkonzern wollte den Bierausschank im bayerischen Firmencasino verbieten. Das Ansinnen löste eine mittelschwere Firmenkrise aus. Nach zähen Verhandlungen konnten die Bayern für sich eine Ausnahmenregelung aushandeln. Manche Unternehmen verteilen an ihre Mitarbeiter ein Handbuch mit einem Verhaltenskodex, um Fehltritte seitens der Mitarbeiter und der Führungskräfte möglichst zu vermeiden.
Aber selbst bei kleineren Unstimmigkeiten kann der transatlantische Haussegen schnell in eine kritische Schieflage geraden. Zu den besonders kniffligen Aufgaben gehörte es für den ehemaligen Microsoft-Geschäftsführer Gallist, dem Mutterunternehmen in Redmond Entwicklungen in der Landesgesellschaft zu vermitteln, die dem US-Trend entgegen liefen. „Durch die Wiedervereinigung hatten wir in Deutschland beispielsweise eine Art Sonderkonjunktur. Als das Geschäft in den USA nicht so gut lief und dort Mitarbeiter entlassen werden sollten, während wir hier unsere Leute halten und kein Personal abbauen wollten, war dieser Trend nicht so einfach vermittelbar“, berichtet Gallist rückblickend.
Allerdings stehen längst nicht alle US-amerikanischen Unternehmen hierzulande den Gewerkschaften und dem eigenen Betriebsrat grundsätzlich kritisch gegenüber. „Es hängt sehr stark vom jeweiligen Manager ab“, erzählt Michael Leppek von der IG Metall in München. „Manche wie Daimler-Chrysler sind sogar stolz auf ein gutes Verhältnis und betonen auch die Vorteile einer verständnisvollen Zusammenarbeit.“ Allerdings irritieren das deutsche Arbeitsrecht und seine Schutzfunktionen für die Angestellten viele US-Amerikaner, die eine Hire-und-Fire-Politik gewohnt sind. „Das Berufsleben dort ist viel schnelllebiger“, beobachtete der Diplommathematiker Exner. „Die US-Kollegen bekommen große Augen, wenn sie hören, dass wir 25 bis 30 Urlaubstage pro Jahre haben, während sie sich mit acht bis zehn zufrieden geben müssen.“
Gehaltsunterschiede?
„Im Vergütungsniveau gibt es keine großen Unterschiede“, erklärt Jochen May, Senior Consultant bei Towers Perrin in Frankfurt am Main. „Neben typisch deutschen Gehaltsmodellen mit Urlaubs- und Weihnachtsgeld hängt die Form des bezahlten Entgelts auch davon ab, ob das Tochterunternehmen tarifgebunden ist. Können Firmen über ihre Modelle frei entscheiden, gibt es in der IT einen Trend hin zum leistungsabhängigen Gehalt. Selbst in schwierigen Zeiten können Top-Leistungsträger mit einer Gehaltserhöhung rechnen, denn der Wettbewerbsdruck ist enorm. In das Entgelt fließen meist Boni und Aktienoptionsprogramme ein. Mitarbeiter, die bei einer US-amerikanischen Tochter einsteigen, sollten sich ihren Vertrag ansehen, denn oft sind Überstunden mit dem Gehalt abgegolten.“
CW-Bericht, Ingrid Weidner